Montag, 16. August 2021

Über Afghanistan - vor einem Jahr

 


Dieses Interview mit dem geschätzten Kommilitonen H. P. und ehemaligen Bundeswehrsoldaten entstand vor einem Jahr. Leider wurde es aus Gründen seiner Identitätsgeheimhaltung bislang nicht veröffentlicht. Die gegenwärtige Situation, das fundamentale Scheitern von ISAF und der atemberaubend schnelle Vormarsch der Taliban, waren zu diesem Zeitpunkt nicht vorhersehbar.


Ein Blick aufs Handy: 164 Neuinfektionen für heute, 30. April bei 2335 fällen insgesamt und 68 Todesfällen - das ist natürlich Quatsch. „Wobei die meisten Fälle mit 499 in Herat tatsächlich realistisch sind, weil es an der iranischen Grenze liegt. Es gibt keine ernstzunehmenden technischen Möglichkeiten für Tests, vom Budget für die Testkits für 150 $ ganz zu schweigen“, meint H. P.


Über das Land


Afghanistan ist von Land umschlossen, es gibt keinen direkten Anschluss zum Seeweg, das Verhältnis zum Nachbar Pakistan ist denkbar ungünstig. Das Grenzland Richtung Iran ist Wüste, gen Osten liegt der Hindukusch mit einigen 7000ern. Hinzu kommt ein relativ hohes Lohnniveau durch ausländische Zuflüsse. Wirtschaftlich erwähnenswert ist eigentlich nur die Drogenökonomie, der die unzugängliche Bergregion als Rückzugsgebiet sogar sehr entgegenkommt und das Teppichknüpfen, dessen Produkte dann im Iran als Perserteppich verkauft werden - „ganz gute Handarbeit“, meint H.P. Ansonsten sei das wirtschaftliche Potenzial von Afghanistan eher mau, selbst wenn die Lohnkosten der regionalen Mitbewerber unterboten werden würden, die Transportwege in Afghanistan seien denkbar schlecht.

Bis zur Herrschaft der Taliban gab es die Spinzar Baumwollfabrik im Kunduz, Arbeitgeber mehrerer Tausender in der Region. Die Eigentümerfamilie lebt inzwischen in Deutschland. Von Seiten der Bundesregierung gab es das Ansinnen, die Teil zerstörte Fabrik unter der Leitung der Eigentümerfamilie wieder aufzubauen um die Wirtschaft der Region anzukurbeln. "Die ehemaligen Eigentümer winken ab, lohnt sich nicht", sagt der ehemalige Kundschafter. Es gibt insgesamt für den Flughäfen, außer Kabul als internationaler Flughafen wird noch Masar-i-Scharif von Turkish Airlines aus Istanbul angeflogen.


ISAF


Nach der Frage nach der Zeit vor den Taliban, als Kabul europäisch geprägt und sogar Teil der Hippie Route nach Indien war. H. P. winkt ab. "Das Foto der Afghanin im Petticoat - das war nie eine gesellschaftliche Realität, das lebte höchstens eine sehr sehr kleine Elite. Afghanistan ist ein Extrembeispiel für Stadt-Land-Gefälle. Entlang der Seidenstraße findet man ein paar Städte, auf dem Land leben die Menschen traditionell. Afghanistan war nie ein modernes Land“, H.P. zögert kurz: „die internationale Gemeinschaft hat bei Afghanistan versagt." Da ist es wieder, das alte Thema: Sinn und Strategie des ISAF-Einsatzes der Bundeswehr. „Der Auftrag von ISAF war nicht die Verbesserungen des Landes, sondern die Rahmenbedingungen an Sicherheit und Stabilität für einen Spielraum zu schaffen. Dieser Spielraum wurde von Auswärtigen Ämtern und anderen Behörden nicht erfolgreich genutzt, aus dem einfachen Grund, weil deren klassischen Arbeitsmittel hier versagen. Wenn man im Vergleich den Wiederaufbau von Ex-Jugoslawien betrachtet, dann ist wenigstens noch der Staatsapparat unter Tito im Bewusstsein, einen Staat in diesem Sinne gab es in Afghanistan nie", macht H. P. klar.


Demokratie Afghaniye


Man könnte gewissermaßen sagen, die Gesellschaft ist basisdemokratisch, aber es ist ein Patronagesystem, nur so wahnsinnig obrigkeitshörig sind sie nicht. Die lokale Miliz untersteht einem Warlord der wiederum mit einem Politiker in Kabul in Verbindung steht. Dieses Netzwerk ist aber alles andere als konsistent. Neue Bündnisse werden geschlossen und Loyalität ist temporär. Das beste Beispiel dafür war die Ermordung Al Rabbanis, was ein politisch, religiös und wirtschaftliches Erdbeben nach sich zog - ein Netzwerk aus Gefälligkeiten. "Als positive Entwicklung kann man die Schura betrachten,in der zumindest Männer jeden Alters über Politik sprechen können, die traditionelle Dschirga ist nur den ältesten vorbehalten. Frauen bleiben hier auch weiter außen vor.

Die Rolle der Ethnien sieht H.P. nachrangig: „Natürlich bilden sich die Netzwerke entlang der Ethnien, genauer eigentlich der Clans, aber vom ethnischen Konflikt der gerne herangezogen wird, kann keine Rede sein. Es gibt doch schon allein unter den Pashtunen Netzwerke mit Konkurrenz, Konflikten, Bündnissen und Patronagesystem. Man stellt auch fest, dass dieses im Rahmen der Möglichkeiten funktioniert, es gibt den Trickle-down-effekt, der ist halt nur sehr shady. Jegliche Versuche staatlicher Strukturen enden an der Stadtgrenze und sowohl Bildung wie Sicherheit als Beispiel liegen bei den Koranschulen bzw. den Milizen. „Wenn die Bevölkerung etwas bei diesen ganzen Maßnahmen gelernt hat, dann dass der Staat negativ ist und im Zweifelsfall nur Geld haben will."

Auf die Frage, ob es nicht Phasen eines funktionierenden Staates in der Geschichte gab, woraus man Strategien zum Nation-Building gewinnen könne, verneint er, bzw. verweist auf die Herrschaft der Safawiden im 17. Jahrhundert. Der Blick auf die historische Karte zeigt, dass die Umstände damals andere waren und das Reich bis zum indischen Ozean ging. "In den 20er, 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es eine relativ stabile Elite des Landadels, durchaus vergleichbar mit dem preußischen. Diese fungierten als Bindeglied zwischen der Bevölkerung und Kabul und waren allgemein anerkannt. Dann kamen die Kommunisten, enteigneten diese Elite und destabilisierten so die ganze Gesellschaft, worunter besonders die Arbeiter litten, die ist doch zu befreien galt. Der Staat ist bis heute ineffizient und quasi nicht vorhanden."


Corona in Afghanistan


Die Gesellschaft könne mit Corona nicht umgehen. Für viele sei diese Krankheit eine Strafe Gottes, die im Zweifelsfall von den Ausländern eingeschleppt wurde. Natürlich ist auch eine Intensivversorgung nicht vorhanden. Allein schon Zusammenhänge mit Arbeitspendlern in den Iran und zurück werden da gar nicht berücksichtigt. Quarantänekonzepte wie in den Nachbarländern funktionieren nicht, da durch den Mangel an Information das Familienleben hochgehalten wird und im Zweifelsfall die Familie einen erkrankten bei sich versteckt hält und damit ist die Durchseuchung natürlich enorm. "Eine Corona-Erkrankung gilt als ehrabschneidend und rufschädigend und wird vor der Gesellschaft tabuisiert. Auf der anderen Seite ist die Gesellschaft natürlich sehr jung, was das Ausmaß der Pandemie beeinflusst. Die Bundeswehr hat in Afghanistan die Interaktion auf ein Minimum gesetzt mit rund 1000 Soldaten bei gegenwärtiger Mandatsobergrenze von 1300 Mann. "Dazu handelt die iranische Regierung im Vergleich wirklich professionell mit der Krankheit, allein schon was verlässliche Zahlen betrifft."

 

Taliban an der Macht? 

 

Auf die Frage nach seiner Einschätzung zum Friedensschluss mit den Taliban, die gegenwärtig auch großes Thema ist schmunzelt H. P.:„Angesichts des Kampfes zwischen den beiden Politikern Ghani und Abdullah wird ihnen wohl schwerlich anderes übrig bleiben." Tatsächlich sieht H.P. die Taliban besser als ihr Ruf, wenn auch mit Unbehagen. Denn für ihn imitieren die Warlords lediglich Stammesstrukturen, während die Taliban einen wahhabistischen mit pakistanischen deobandi-eingefärbten Kurs fahren. "Das sind auch nicht mehr die Taliban von 2004. Für einen großen Teil der Bevölkerung sind die Taliban die stabilste Lösung auf dem Land. Tatsächlich sind die Taliban die Law & order Partei. Die Herrschaft der Warlords ist unzuverlässig, Recht bekommt beispielsweise der, der am meisten bezahlt. Bei den Taliban weiß der Bauer hingegen, wie viel Steuer er am Ende des Monats zu bezahlen hat.

Die Taliban habe beispielsweise das Buzkashi, das Ziegenziehen, ein afghanischer Volkssport, bei dem eine tote Ziege oder ein Kalb von Reitern im Wettkampf zerfleddert wird, aber auch das Bacha Bazi, die unter Warlords wieder in Mode gekommene Päderastie, als unislamisch verboten, „Alkohol, Musik, Glücksspiel und Prostitution selbstredend auch. Bei Opium ist die Sache ein bisschen anders, war der Anbau unter der Herrschaft der Taliban streng verboten, bei Zuwiderhandlung Kopf ab, verdienen jetzt die Taliban ebenfalls daran. Problematischer ist die Talibanherrschaft für die Stadtbevölkerung, die durch den westlichen Kontakt immerhin mit Bildung auch für Frauen, für eine bestimmte Elite Reisefreiheit, aber ganz sicher durch das politische Gespräch in Konflikt mit den Taliban käme. Eine Herrschaft unter den Taliban? Zunächst murmelt er ein Zitat von Joseph de Maistre „Jedes Volk hat die Regierung die es verdient."

Tatsächlich könne er sich aber eine Konsolidierung unter den Taliban vorstellen. „Ein Talibanregime wäre zumindest operabel, eben pashtunisch traditionell." Sukzessive Frauenrechte sähe er dann aber auch langfristig nicht.

Auf die Frage nach persönlichen Kontakten und Eindrücken als Kundschafter bei der Bundeswehr zögert er nachdenklich: „Afghanistan ist ein spannendes und interessantes Land, da möchte ich bei bleiben. Die Zusammenarbeit mit Einheimischen war grundsätzlich problemlos. Trotzdem ist das Standing als Ausländer denkbar schlecht. Man gilt als Ursache der gesellschaftlichen Polarisierung und Instabilität. Das ist auch nicht falsch. Das war nur schon mit dem Einzug der Kommunisten so. Während es in Kabul Stadtteile gibt mit sozialismustypischen Plattenbauten ist der Kommunismus auf dem Land nie angekommen. Und dann muss sagen, dass die Notwendigkeit sich auf das wirtschaftliche Fortkommen zu konzentrieren, weit vor jedem freundschaftlichen Kontakt stand.“





Samstag, 22. April 2017

Türkei, seni seviyorum

Kommentar.JS Die Liebe der Türken und Deutschen zueinander ist so alt, dass sie niemals zerbrechen wird - Diesen schönen Satz vom alten Bismarck muss man erst mal im historischen Kontext sehen, um ihn überhaupt ernst nehmen zu können. Zwischen Briten, Franzosen und Österreichern war das Osmanische Reich der einzige Akteur, den keinerlei Interessenskonflikte mit dem Deutschen Reich verbanden, Grund genug für Liebe, die sich mit Reminiszenzen an den deutschen Kaisers in Istanbul wiederfinden lässt.
Als mir mal am helllichten Tag die Bundeskanzlerin in ihrer Limousine kurz vor dem Kanzleramt beinahe über die Füße fuhr, saß neben ihr der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Solche Bilder dürften gegenwärtig rar sein. Nie war die europäisch-türkische Beziehung zerrütteter als nach dem Referendum zu Ostern.
Ernsthaft jetzt?
Der Tango zwischen der Türkei und Europa ist so alt wie die Europäische Union selber. Immer herrschte dabei eine Haltung wie gegenüber der Cousine mit der man gerne ins Bett möchte, aber sich nicht traut. Menschenrechte standen oft im Weg, aber auch jenseits davon waren die Vorbehalte groß: Kulturelle Unterschiede, die Wirtschaftsstrukturen, alles Gründe, die gegen einen EU-Beitritt sprachen. Loslassen wollte man aber nie. Ich erinnere mich an einen Satz in einer Podiumsdiskussion: „Ich weigere mich anzuerkennen, dass ein Land nur aufgrund des Islam die EU-Mitgliedschaft verweigert werden könnte.“ - soweit muss man dafür gar nicht gehen: Alle möglichen Länder treten der EU bei, Bulgarien, Rumänien, aber ein kleines muslimisches Land wie Bosnien bleibt da außen vor.
Aber nein, die Gründe für die Verweigerung eines türkischen EU-Beitritts erscheinen mir wesentlich profaner: 75 Millionen Türken auf 783.562 km², das wäre ein geographischer und demographischer Brocken, der im Gegensatz zu den ganzen Zwergstaaten enormes politisches Gewicht hätte. Außerdem ist es fragwürdig, ob man Länder wie Syrien, Iran und Irak an einer europäischen Grenzen haben möchte. Also lässt man die Türken zappeln mit privilegierter Partnerschaft und der vagen Hoffnung, doch eines Tages beitreten zu dürfen, bis auch der letzte Anatolier die Hinhaltetaktik bemerkt. Man müsste dem türkischen Staatspräsidenten das Kompliment dafür aussprechen, dass er es schafft, diese Posse zu beenden. Immerhin steht beispielsweise der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok kurz davor, Erdoğan den Stuhl vor die Tür zu stellen.
Dass Oberlehrerrhetorik aus Europa geradezu Dünger für Erdoğans Agenda ist, beweist nicht zuletzt das Referendum. Die türkische Resignation ist der Grund warum jedwede Agitation gegen Erdoğan die Enttäuschten in seine Arme treibt. Denn Erdoğan handelt im Gegensatz zur EU nach der Devise „nicht kleckern, klotzen“ und dafür ist ihm die türkische Bevölkerung zu großen Teilen sehr dankbar. Es erinnert mich an die Glorifizierung Adenauers im Nachkriegsdeutschland; man darf nicht vergessen, auch die Türkei hatte zu dem Zeitpunkt politisch wilde Jahrzehnte voller Militärputsche, Willkür, Korruption und nicht zuletzt brachliegender Wirtschaft hinter sich - unter Erdoğan erlebte die Türkei zeitweise traumhaftes Wirtschaftswachstum. Nun ist Erdoğan weder sonderlich visionär noch volkswirtschaftliches Wunderkind – selbst der akademische Abschluss ist nicht wasserfest – sondern er verwendet einen simplen Zaubertrick: Privatisierung und staatliche Verpflichtung auf Jahrzehnte durch Bombastikprojekte, wie die dritte Bosporusbrücke, der dritte Flughafen und Krankenhäuser ohne Ende - unrentable Prestigeprojekte die eine bestimmte Klientel zu Milliardären machte auf Kosten der türkischen Bevölkerung.
Angesichts der Goldgräberstimmung besteht natürlich auch weiterhin reges wirtschaftliches Interesse daran das System aufrecht zu erhalten. Mehr denn je ist das Land abhängig von Auslandsinvestitionen. Die deutsche industrie- und Handelskammer wiegelt ab und spricht von einem festen Fundament der Auslandsbeziehungen und verlässlichen Industriepartnern. Interessanterweise wird alles Werbewirksame aufgefahren um Investitionen schmackhaft zu machen, allein der Eindruck, dass Sauerbier angeboten wird, bleibt.
Garantiert nicht hilfreich dafür ist der Demokratieabbau spätestens seit den Gezi Park-Protesten um sich greift. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht von Verhaftungen von Oppositionellen, Journalisten, Juristen, Polizei und Militär berichtet wird. Insbesondere seit dem ominösen Putschversuch agiert der Staatspräsident außenpolitisch immer unsouveräner. Der gegenwärtige Ausnahmezustand wird dabei untermalt wird von der Despotenpauke. Erste Konsequenz auf den leicht schwefeligen Geruch nach Bürgerkrieg verspürt der türkische Tourismus, der immerhin 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufbringt. Ob da das allmähliche Tauwetter der russisch-türkischen Beziehungen die Einbußen wieder auffangen kann, bleibt fraglich.
Dies ist natürlich ein Feld, dass sich geradezu dafür eignet, den schwarzen Peter der westlichen Propaganda zuzuschieben. Dessen sollte sich auch die EU-Politiker bewusst sein. Immerhin lässt es sich nicht leugnen, dass die EU in der Vergangenheit über den potentiellen EU-Beitritt den vielleicht noch moderaten Erdoğan nach ihrer Pfeife tanzen ließ, aber ausgerechnet jetzt mit ihm als Despoten Verträge abschließt, aus Angst, er könne seine Schleusen für Flüchtlinge gen Europa öffnen, ein Druckmittel, das angesichts der Abwehr auf der Balkanroute und der Bedeutung für Erdoğan immer mehr an Kraft verliert. Um es platt zu sagen, der verunglückte Eiertanz des türkischen Staatspräsidenten den Flüchtlingen eine verminderte Form der Staatszugehörigkeit zu ermöglichen um sie als „Stimmvieh“ zu gewinnen, offenbart seine schwache Position und sollte die EU entspannter zurücklehnen lassen.
Tja, und jetzt dieses Referendum zur Änderung der türkischen Parlamentarischen Regierung in eine Präsidialsystem genannte One man-Show: Angesichts der verfassungsverletzenden Werbung des Präsidenten für diese Änderung, seiner Diffamierung von Nein-Wählern als Terroristen, der Bombardierung von kurdischen Oppositionshochburgen, Terroristenjagd genannt, der Einschüchterung und Bespitzelung der Türken im Ausland und nicht zu unterschlagen die mögliche Wahlmanipulation, die noch Raum steht – für all das sind 51,45 Prozent Zustimmung wahrlich eine magere Ausbeute!
Aber düsterem Blick schauen wir auf das kommende Referendum über die Wiedereinführung der Todesstrafe. Europa sollte sich darüber im Klaren sein, dass der zukünftige Austausch mit dem türkischen Staatspräsidenten auf einem dünnen Drahtseil balanciert, wo auf der einen Seite die Appeasementpolitik durch Abbruch der Gespräche gegenüber einem demokratisch legitimierten Despoten lauert, der die Opposition mit allen Mitteln, möglicherweise dann auch mittels der Todesstrafe, zum Schweigen bringt. Auf der anderen Seite setzt Europa seine eh schon gestörte Glaubwürdigkeit beim türkischen Volk aufs Spiel, wenn sie mit ihrer Arroganz vermittelt, der türkische Präsident kämpfe um den Erhalt der türkischen Souveränität.
Um nichts in der Welt darf man die Türken diesem Kleptokraten überlassen! Um nichts in der Welt darf Europa zukünftig bei Gesprächen eine kritische Selbstreflexion außer Acht lassen, was diesem Mann in die Karten spielen würde. Wir sind durch die Entwicklung Europas mit unseren Wirtschaftsbeziehungen und Populisten schlechte Demokratieexporteure geworden, das nimmt uns keiner mehr ab!
Selbstreflexion – so könnte man die gegenwärtige Agenda der FAZ zum Abstimmungsergebnis der Türken in Deutschland bezeichnen. Drama, Baby! Die Integration sei gefloppt, so, so! Man mag von Claudia Roth halten was man will, aber ihre Rechnung ist einleuchtend: 4,5 Millionen türkischstämmige Menschen leben in Deutschland, davon sind 1,4 Millionen aufgrund ihres türkischen Passes wahlberechtigt, weniger die Hälfte, genauer 46 Prozent also rund 644.000 haben sich an dem Referendum beteiligt, davon haben 416.000 mit Ja gestimmt. Da sich die Frage der Integration auf alle Türkeistämmigen bezieht ist die Bilanz bezüglich Ja zur Demokratie und Freiheitsliebe mit einem Ergebnis unter 10 Prozent doch erfreulich.
Was man nicht vergessen sollte, Pauschalpalaver angesichts unserer Meinungsfreiheit wie die Verfügungen gegen jene türkischen Politiker, die im Vorfeld die Werbetrommel rühren wollten, unterstützen den Eindruck der Doppelmoral gegen die Türken. Drangsal innerhalb der türkischen Gemeinschaft in Deutschland gegen Oppositionelle, Einflüsterungen aus Ankara via DITIB, Bespitzelung, Druck und Drohung - all diese Methoden scheinen in der Debatte nicht berücksichtigt zu werden, dabei wäre es doch wichtig den Bedrohten schützend zur Seite zu stehen um so ein Zeichen gegen den Pöbel zu setzen. Anstelle die Deutschtürken für ihre Abstimmung zurück in die Türkei zu wünschen, lasst es Geldstrafen und Sozialdienste hageln für diejenigen, die Erdoğans Indoktrination gewaltsam ausbreiten wollen.
Als Erdoğan gegenüber CNN sagte „Ich bin sterblich, ich könnte jeden Moment sterben.“,spricht er ein wichtiges Problem an. Mit 63 Jahren und seinen eindrucksvollen cholerischen Ausbrüchen dürfte er abseits aller Krebsgerüchte die längste Zeit in Amt und Würden gewesen sein, um sein System aufrecht zu erhalten. „Das ist kein System, das Tayyip Erdoğan gehört.“ - doch, genau nichts Anderes ist es! Aber sind seine Abkömmlinge Manns genug, sein Erbe aufrecht zu erhalten – diese offen korrupte Brut? Quo vadis, Turcia – wenn es vermutlich nicht einmal einen Vorstoß der Opposition bräuchte, um das Kartenhaus aus Gier, Rücksichtslosigkeit und Gewalt zum Einsturz zu bringen. Als Partner auf Augenhöhe sollte sich die EU dann auf ihre Liebesdienste für die Türkei besinnen.

Donnerstag, 8. Dezember 2016

Istanbul: ein bisschen stiller als sonst

JS. Istanbul Irgendetwas sagt mir, dem netten Herren von der Passkontrolle vom Flughafen Atatürk auf die Frage nach der Profession nicht mit meiner schreibenden Tätigkeit zu antworten, sondern bescheiden-verlogen auf den Nebenjob im Museum auszuweichen. Im Hotelzimmer lese ich online ein bisschen später von Akin Atalays Verhaftung direkt auf dem Rollfeld vom Atatürk Airport. Ich frage mich, ob er wohl mit mir in der Maschine saß, auch wenn mir nichts aufgefallen war. Es wird für mich das erste Mal in Istanbul seit 10 Jahren sein, in dem ich keine Interviews mit fremden Menschen in Teehäusern forciere, wie sonst eigentlich immer, sondern mich darauf beschränke, die Augen aufzuhalten.
Es ist ein warmer, sonniger Novembertag, weswegen ich im Tshirt von Beşiktaş aus nach Kabataş laufen kann. Am Platz bei der Bahçeşehir Universität drückt mir ein junger Mann eine Postkarte mit dem Porträt des Staatsgründers in die Hand, für eine Spende an behinderte Menschen. Die Allee am Dolmabahçe-Palast ist geschmückt mit großen wehenden Türkeiflaggen im Wechsel mit Atatürk, dessen Todestag letzte Woche gedacht wurde. Ich erinnere mich, dass ich in den letzten beiden Jahren die Präsenz des Gründervaters in der Öffentlichkeit vermisst hatte, stattdessen prangte damals das Porträt des Präsidenten an allen erdenklichen Orten. Atatürk fand man auf unglaublich vielen Bannern, mit denen Fenster verhängt wurden. Diese Protestform wurde unterbunden durch ein Verbot des Nachdrucks dieser Flaggen. Davon ist nichts mehr zu sehen. Das öffentliche Bild erinnert fast an die guten alten Zeiten, als der türkische Staatschef noch unser Freund war.
Abends auf dem Taksim
Abends laufe ich über den Taksimplatz. Die Bäume des Geziparks stehen noch genau so da, wie ich sie letztes Jahr noch gesehen hatte. Nur die Paletten mit Baumaterial versprechen Unheilvolles. Zwei Details unterscheiden sich allerdings fundamental zu früher: Der Taksimplatz war schon immer ein Ort emsigen Treibens: Familien schoben hier ihren Kinderwagen bepackt und genervt vom Einkauf durch die Gegend, junge Pärchen hielten kurz für ein Selfie vorm Denkmal inne, um dann schnell zum Lieblingscafé weiter zu eilen und ganz zu Schweigen von Touristentrauben, die wild fotografierend einer Elefantenherde gleichkamen. Anstelle dessen ist der Fluss des Treibens nahezu zum Stillstand gekommen, arabisch sprechende junge Männer schlagen hier die Zeit tot, sie wissen anscheinend nicht wohin und so drehen sie ihre Runden auf dem Platz. Die andere Tatsache ist noch verwunderlicher. Der Taksimplatz ist, solange ich denken kann, Paradeplatz polizeilicher Potenz. Normalerweise parken vor der Mauer gepanzerte Wasserwerfer und die Polizisten selber, häufig in großer Anzahl, sind imposant und vor allem schwer bewaffnet. Ich muss mich jetzt anstrengen überhaupt welche zu entdecken.
Zwischen Gezipark und Taksim-Denkmal ist ein Secondhand Bücher-Festival. Beim vollmundig prämierten besten türkischen Kaffee der Welt kehre ich ein. Der Chef lädt mich an seinen Tisch zum Kaffee ein. Normalerweise käme jetzt der übliche nette Smalltalk, wie ich ihn schon oft und gerne hier mache, aber auf die Antwort ob ich Amerikaner oder Brite sei, friert das Gesicht des Kaffeemanagers ein und er verfällt in Retrospektiven, wie schön früher das Verhältnis gewesen sei, viele Türken hätten deutsch gelernt, sein Chef zum Beispiel, den er ran winkt. Man hat sich noch weniger zu sagen als Smalltalk und das betrübt mich sehr.
Ich bin mir unsicher ob es mich freut, dass man auf der İstiklâl Caddesi kaum europäische Touristen in ihrer entlarvenden Funktionskleidung sieht. Die paar Mal Deutsch lassen sich an diesem Wochenende an einer Hand abzählen.
Vor dem Zubettgehen lese ich einen Artikel über die verhaftete Schriftstellerin Asli Erdoğan , deren Gesicht mir bekannt vorkommt. Am nächsten Morgen wache ich mit der Erinnerung auf, dass ich sie vor ein paar Jahren während des Studiums traf und einen Artikel über sie und die deutsche Publikation ihres Romans „Die Stadt mit der roten Pelerine“ schreiben durfte – die Erinnerung verfolgt mich den gesamten Vormittag.
Während meiner Mittagspause im Restaurant in Ortaköy, lasse ich meinen Blick durch die Gasse schweifen und dann trifft mich der Schlag: Ich habe bisher noch keinen kette rauchenden Opa im Teehaus inmitten vom Zeitungswust gesehen und werde ihn auch das gesamte Wochenende nicht zu sehen bekommen. Stattdessen hält sich jeder öffentlich bedeckt und macht sein Ding, scheint es mir. Mit diesem Gedanken registriere ich das Angebot an den Kiosken. Tatsächlich scheinen die vielen Zeitungen größtenteils durch Magazine über Sport, Mode und Gesundheit ersetzt worden zu sein.
Demonstration gegen die Schließung der Militärschule
Mehr erfreut als erschrocken stoße ich doch noch tatsächlich auf eine kleine Demonstration, eine mittelgroße Traube Männer mit Schildern und Parolen auf dem dreieckigen Platz unweit der Bahçeşehir Universität. Ich frage eine neben mir stehende Studentin, sie mustert mich kurz und seufzt bevor sie antwortet, dass die Männer gegen den Regierungsbeschluss der Schließung der traditionsreichen Kuleli-Militärschule protestieren. „...und natürlich gegen die Regierung generell nach dem Putsch“. Eine handvoll Polizisten steht unweit der Menge und beobachtet entspannt das Spektakel.
Am späteren Nachmittag sehe ich eine weitere Demonstration von Feministinnen, die für ihre Rechte am Hafen von Kadiköy kämpfen – ein vertrautes Bild von früher. Während ich durch die Gassen von Kadiköy, mit seinen Restaurants, Teestuben, vorbei an Musikern flaniere, fallen mir meine Interviews der letzten Jahren ein, die ich hier mit wildfremden Menschen geführt habe. Von den Männergrüppchen, die bei Tee und Zigarette oder Wasserpfeife lautstarke Debatten führen, ist nichts zu sehen. Ich erinnere mich an Konfrontationen und Meinungsverschiedenheiten zwischen Menschen, die in Diskussionen ausgetragen wurden. Wenn heute Menschen demonstrieren, scheint es ohne Antwort zu bleiben, ein Ruf, der verhallt.
Angler auf der Galatabrücke
Bei einem anderen Spaziergang den Bosporus entlang fällt mein Blick auf die Köderdose von einem Fischer. Auf dem Deckel ist das Logo der AK Partisi mit hellblauem Hintergrund gedruckt. Es tröstet mich, dass die Fische nicht anzubeißen scheinen, als ich seine magere Ausbeute betrachte.

Samstag, 27. August 2016

Shakespeare – so nett!

Tempelhof.JS „Soll ich dich einem Sommertag vergleichen?“
Nein, Theater von Ton und Kirschen aus Glindow bei Werder steht viel mehr für laue Spätsommerabende, an denen Mücken und Motten im trübgelben Licht der Bühnenbeleuchtung tanzen und man offenen Auges träumt; nur der Schluck am kalten Getränk erinnert einen daran, dass man wach ist. Unter der Kuppel des ufa- Theaters in Tempelhof schlugen die Künstler ihr zahlreiches Publikum mit Gedichten aus dem 17. Jahrhundert in ihren Bann .

32 der insgesamt 154 Sonette William Shakespeares nahm sich die Wandertheatergruppe an und inszenierte sie in einem berührenden Reigen: in alltäglichen Situationen, absonderlichen Skurrilitäten, drastischen Momenten, mystischer Entrückung – so nah oder fern einem das Dargebotene schien, so weit oder eng umliefen sie das eigentliche Thema der Liebe.

Direkt zu Beginn sorgte der schier endlos danieder rieselnde Sand aus dem Krug in die Waschschüssel für die eindringliche Erkenntnis, wie endlich der Mensch und damit die Liebe in Wirklichkeit sind. Mit dem immer breiiger werdenden Wasser in dieser Schüssel bildete Nelson Leons Metapher der Gesichtsreinigung als Alterung einen beeindruckenden Auftakt der Episoden.

Besonders viele Lacher und Amüsement erntete David Johnston als grantiger Grummelgreis, der im Sonett über das Alter lebhaft bewies, dass der Herbst noch seine warmen Tage hat. Besonders schön war zu beobachten, wie angesichts seiner Rollatorakrobatik das Tabu der Altersdiskriminierung immer mehr bröckelte und aus unterdrückten Kichern schließlich befreites Lachen wurde.

Im Vergleich zu vergangenen Inszenierungen fiel erfreut auf, dass Musik und Gesang einen weitaus größeren Anteil hatte. Ein Riesenkompliment für das beeindruckende Ergebnis: Kurt Weill hätte seinen Spaß am maliziösen Eifersuchtstango gehabt, Margarete Biereye gurrte herrlich verrucht. Größte Begeisterung brandete beim Publikum jedoch bei Davids Countrysong auf, den er zu Sonett 109 zusammen mit seinem Bruder zum Besten gab. „Genauso hätte es bei Johnny Cash geklungen“, schmunzelte er hinterher. Allerdings spielen er und sein Bruder zusammen Countrymusik seit sie 11 Jahre alt sind.
Photo: Jean-Pierre Estournet

Herzzerreißende Tragikomik bot sich dem Publikum, als das Männerquintett in einer wunderschönen Kantilene der Vergänglichkeit nachklagten, jedoch im Spiel dabei nicht die der Liebe meinten, sondern tatsächlich derjenigen eines Paar Stiefels, das Rob Wyn Jones buchstäblich davonlief. Stimmlich überzeugte am meisten Polina Borissova, die so ihr Talent als Sängerin neben dem Schauspiel unter Beweis stellen konnte.

Der Respekt für eben dieses Wunderwerk gebührt Daisy Watkiss, die auch in Shakespeares Sonette eindrucksvoll ihre Kunst als Puppenspielerin präsentierte. Die empfindsame Trauer der Witwe, die von ihr deutlich erkennbar geführt wurde, ließ einen immer wieder sich vergewissern, dass man es lediglich mit einer leblosen Puppe zu tun hat. Es lässt sich nicht anders erklären, als dass sie einen Teil ihrer Seele dafür opfert, Gegenständen Leben einhauchen zu können.
Aus dem simplen Bühnenbild das Maximum an Effekten herauszuholen gebührt wohl auch ihrem Talent. Der Wald aus herabhängenden Seilen, wandelte seine Funktion vom Theatervorhang, Irrgarten, Lusthain oder Versteck je nach Bedarfsfall. Zuletzt gelang der alles hinwegfegende Orkan lediglich über die Seile und ein paar über die Bühne polternden Stühle.

Auf Hochform schienen alle bei diesem Stück auflaufen zu können. Margarete gab den somnambulen Pierrot, der mal schlaftrunken, mal an unsichtbaren Fäden taumelnd, das Sonett vom Träumen präsentierte. Kompliment auch an Richard Henschels Travestie - erst die auffällig mangelhafte Körperrasur ließ den Groschen fallen. Dafür schaffte es Polina Borissova hinreißend, die klassische Rolle der Liebe Verfallenen zu brechen, trotz imposanten Pfeil im Herzen.
Photo: Jean-Pierre Estournet


Auch wenn Shakespeares Sonette ohne große Erzählbögen, Cliffhanger, Intrigen und sonst wie verwickelter Handlung auskommen mussten, so gelang es ihnen hervorragend, ihre Zuschauer über eine Stunde lang bestens zu unterhalten. Durchdachte Dramaturgie und das volle Ausschöpfen ihres Potenzials sorgten dafür, keine Nummernrevue entstehen zu lassen, sondern vielmehr einen meditativen Tanz über das ureigenste Thema jener vierhundertjähriger Gedichte in die Gegenwart zu choreographieren.

Dienstag, 31. Mai 2016

Zwischen Berlin und Kyoto – Wettbewerb der Grafiken


Japanische Kunst - für Viele ist das Hokusais große Welle, Teezeremonie und Kranichfalten; die Print Art
Triennale Kyoto lehrt da eines Besseren. Während die alte Kaiserstadt in voller Kirschblütenpracht
Heerscharen von Besuchern anlockt, treten zwanzig japanische Künstler in diesem nationalen
Grafik-Wettbewerb gegeneinander an. Einer dieser Künstler ist Tomoyuki Ueno aus Berlin. Er, wie
auch alle anderen werden von renommierten Gutachtern für den Wettbewerb vorgeschlagen. Die
Print Art Triennale ist einer wichtigsten Kunstwettbewerbe in Japan.
Ueno wurde von der Galeristin Megumi Matsuo empfohlen. Die beiden kennen sich seit Ueno noch
Kunststudent in Kyoto war. Schon damals erregten seine Grafiken und Skulpturen ihre
Aufmerksamkeit. „Ich habe darauf gewartet, den Wettbewerb verändern zu können. Die japanische
Künstlerszene ist sehr überschaubar; alle kennen einander, wie in einer Familie“, meint die
Gutachterin.“Tomoyuki Ueno ist jemand besonderes, er lebt in zwei Kulturen. Ich mag solche
Ausnahme-Künstler, denn im Fall von Grafiken geht es um den Gedanken der Kopie. Der Künstler
nimmt Informationen auf und verarbeitet sie. Ohne einem Beitrag wie den von Ueno wäre die
Veranstaltung recht traditionell.“
Die bedruckten, fragilen Wachsplatten von Mitsuo Kim fallen direkt ins Auge, stellenweise verläuft
das Muster des aufgedruckten Perserteppichmotivs durch die deutlichen Spuren von Wärme und
erzeugt dadurch einen plastisch, wenngleich irrealen Moment. Professor Hideki Kimura,
emeritierter Leiter der Kyoto City University of Arts und Mitglied der Jury, meint zum Werk:
„Interessant sind die Parallelen zwischen dem Werk und der Biografie des Künstlers. Obwohl er in
Japan lebt und arbeitet, wäre seine Teilnahme am Wettbewerb gescheitert, weil er von Geburt her
Koreaner ist - so fragil sein Werk ist, so unsicher ist seine japanische Identität.“
Eine Videoinstallation lässt sich sogar unter den Beiträgen finden. „Wir haben uns entschlossen,
dass Arbeiten wie diese Videokunst, angesichts heutiger Zeiten auch unter Grafiken fallen können“,
erklärt Professor Kimura,. Dafür ist der Künstler Yuki Hayashi mit seiner Installation aus tausenden
von Internetbildern, die er in einem speziellen Algorithmus mit dem Beamer an die Wand wirft, mit
einem der weiteren Preis des Wettbewerbs ausgezeichnet worden.
Tomoyuki Uenos Installation „Voyager Return Trip“ sticht ebenfalls unter den Beiträgen hervor. Ein
riesiges X füllt fast den kompletten Raum aus. Auf der Achse befindet sich ein großer
leuchtendblauer Tisch aus einem eingefärbten Baumstamm; darauf liegt der Brief des damaligen
amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter, in dem er seinen Wunsch der Vereinigung der Menschen
ohne Ländergrenzen zum Ausdruck bringt. „1977 hat die NASA die golden Record zusammen mit
der Voyager I und II ins Weltall geschossen auf der Suche nach anderen intelligenten Lebensformen.
Auf der golden Record sind Informationen über die Menschheit enthalten. Ich finde, die Voyager
müssten heute wieder zu uns zurückkommen, damit wir diese golden Record wieder sehen und uns das in Erinnerung gerufen wird.“, erklärt der Künstler.

Ueno, Tomoyuki: Voyager Return Trip
Tatsächlich findet man auf zwei gegenüberliegenden Schenkeln des X eine goldene Druckplatte mit
den berühmten menschlichen Abbildungen und den Druck davon. Auf dem blauen Tisch findet man
einen goldenen Kreisel; es ist eine weitere Nachbildung der golden Record. Am anderen Ende des X
findet man eine große Grafik. Der Künstler hat hier die erste Seite von 200 Nationalhymnen
übereinander gedruckt. Die Einzelne verschwindet im großen Kollektiv.
Die Jury der Print Triennale zu der Professor Kimura gehört, hat sich nicht für Uenos Arbeit
entschieden. Der Künstler nimmt es gelassen:“Alleine hierfür vorgeschlagen zu werden, ist eine
große Ehre.“
Gewinner des Wettbewerbs ist Kouseki Ono für seine „Hundred Layers of Colors“. Seine Arbeit
zeigt Grafiken, die durch hochpräzise Drucktechnik den Print als feine Nadeln in den Raum
reinragen lassen. “Diese Arbeit ist einzigartig auf der Welt. Ich freue mich dass er den ersten Preis
für dies Arbeit bekommen hat“, schwärmt Professor Kimura.
Unweit der Kyoto Municipal Museum of Art der Kunsthalle hat Tomoyuki Ueno in Matsuos ruhiger
und beschaulicher Galerie seine andere Ausstellung. Inmitten seiner Schmetterlingsinstallationen
steht eine Skulptur mit Fensterrahmen, der jedoch statt einer Scheibe, einen weiteren Rahmen aus
Glas enthält. Uenos künstlerischer Kampf gegen Grenzen kennt wiederum keine...

Freitag, 5. Juni 2015

The crisis inside – Schmerz aus aller Welt in einem Buch



Mitte.JS  Die Beschreibung des eigenen Todes, zerstörte Träume, Psychogramm hinein ins eigene Elend, die Ohnmacht vor einer aus den Fugen geratenen Welt – vielleicht ist „The crisis inside“ eine Bilanz der Generation Y. Freitagabend präsentierte The International Short Story Project in einer Lesung ihre Anthologie aus der Edition Hamouda in den überhitzten Räumen der Elisabeth Schwarzkopf Stiftung vor einem fast intimen Kreis von 40 Leuten. 

„Zwar ist die Kurzgeschichte keine neue literarische Gattung, aber dieses Projekt beschreitet mit der Zusammenarbeit von Autoren aus 18 Ländern in 14 Sprachen via Email, Skype und Facebook neue Wege.“, beschreibt Herausgeber Julian Tangermann in seiner Begrüßung. Lektoren und Autoren lasen aus sechs der insgesamt 18 Geschichten.
„Meine Geschichte“ von Mohammed Al Bdewi holte direkt zu Beginn zum großen emotionalen Paukenschlag. Die minutiöse Beschreibung seines knapp entronnenen Todes zu Beginn der syrischen Revolution in der Stadt Daraa schnürte einem die Kehle zu. Seine hyperrealistischen Beschreibungen ließ die Gewehrsalven hören und man hatte beinahe den Geschmack von Staub und Blut am Gaumen.

Fast federleicht dazu wirkten die lyrischen Gedanken von Nadiia Telenchuk in „Das Blatt deines Lebens“. Tagebucheintragungen gleich fing sie die Träume eines Mädchens, der späteren Studentin und final der jungen Frau ein, dabei fiel auf, wie sich im Reifeverlauf  in den Zeilen der Träumereien immer mehr die Realitätsängste hineinweben. Aber auch ihre Träume sind durch den Ostukrainekonflikt seit Februar 2014 zerstört.

Die Welt ist ein Dorf geworden, wie alleine das Projekt mit seinen Geschichten aus 18 Ländern demonstriert. Georg Wolf führt sardonisch in seiner „Konversion“ vor, dass trotz aller Verständigung und globaler Konformität, die Reste kultureller Identität manchmal gegeneinander prallen. Auch wenn seine Beschreibungen der kulturellen Diskrepanzen sehr humorvoll waren, die Geschichte war verdammt traurig.

Cirujano muss ein Kompliment für die mitreißende Leidenschaft in seinem „Schuldeingeständnis“ gemacht werden, die den Zuhörer langsam begreifen lässt, wie aus einem Liebenden ein Terrorist werden kann.

Die vorgetragenen Kurzgeschichten, noch von Kurt Hackbarth und Sophie Béasse machen  große Lust auf das restliche Buch. Auch wenn das Thema „The Crisis inside“ von Vornerein Happyends auszuschließen vermag, belegen diese Autoren der Generation Y in ihren mannigfaltigen Konfliktreflexionen eine auffällige Gemeinsamkeit im Schmerz, der aufhorchen lässt und zugleich Respekt für die kreativen Offenbarungen einfordert.

Sonntag, 28. Dezember 2014

Das grüne Seidenband




„Mersi“
der Teeboy  stellte das erste dampfende Glas Tee neben mein gerade hochfahrendes Notebook. Hungrig schielte ich auf die Dose mit den Ingwer-Karamellkeksen in seiner Hand, ich hatte seit dem gestrigen Mittagessen nichts mehr gegessen und geschlafen hatte ich auch nicht viel. Er verstand, hielt mir die Blechdose hin und ich stapelte einen kleinen Kekshaufen auf meine Untertasse.
Die Verlegerin saß hinter ihrem Schreibtisch mir gegenüber. Vor ihr stand ebenfalls ein Glas Tee. Mit einem Keks zwischen ihren Fingern las sie die Zeitung. Während sie abbiss, beugte sie sich darüber und fing auf einmal schallend an zu lachen.
Sie winkte mich zu sich und zeigte auf das Titelbild. Es zeigte ein Meer von Gläubigen beim Freitagsgebet. Ich schaute sie fragend an, doch sie feixte nur und sah mich über ihre Brille hinweg an. „In welche Richtung beten sie? Manchmal denke ich, dass die Zeitungsredakteure die Manipulation extra so offensichtlich machen, damit der Leser die vertuschte Wahrheit erkennt.“
Die Menschenmasse, die hier einträchtig betete, schaute auf den Perspektivebenen in verschiedene Richtungen, statt einheitlich gen Mekka.
Jemand kam die Treppe hochgerannt. Die kleine Angestellte zeigte aufgeregt den Kolleginnen ihr geschwollenes Bein. Milizen wären in die U-Bahn eingedrungen und hätten den Fahrgästen mit Knüppeln auf die Beine geschlagen. Bei der Information, dass die Milizen keine Landsleute waren, sondern palästinensisches Arabisch sprachen, wurde ich hellwach.
Während ich meine Eltern anrief und newstrunken anwies, meinem Redakteur die Meldung weiterzugeben, verfinsterte sich die Miene der Verlegerin „Beende sofort das Gespräch!“. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. Leise nahm sie den Telefonhörer und führte ihn zum Ohr. Nach ein paar Sekunden legte sie auf und ging zu ihrem Schreibtisch, um sich wieder ihren Korrespondenzen zu widmen. Dabei hielt sie mit ihrer linken Hand die Augen bedeckt, während sie sich über einen Brief beugte.
In meinem Kopf stolperten die Gedanken übereinander hinweg, ich starrte sie nur an. Irgendwann bemerkte sie meinen Blick, seufzte, faltete ihre Hände und betrachtete ihre manikürten Nägel: „Wenn nicht innerhalb der nächsten halben Stunde jemand kommt, um uns zu verhaften, ist alles gut gegangen. Ich dachte, du möchtest deinen Eltern sagen, dass es dir gut geht. Wenn du deine Nachrichten los werden willst, dann sollen sie hier anrufen. Nur herausgehende Telefonate werden abgehört. Bei allem was du tust -denke nach! Jetzt bleibt abzuwarten…Los, übersetze, das ist das Beste, was du tun kannst!“
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Fassungslos blieb ich vor dem Rechner sitzen.
„Übersetze!“
Ich griff zum Glas neben meinem Schreibtisch und führte es zum Mund, obwohl ich mir dabei die Finger verbrannte; ich hatte nicht bemerkt, dass es ersetzt worden war. Ich fing an, mich zu entspannen, der vorher verkrampfte Rücken schmerzte. Meine Schläfen pochten. "Ich denke, ich möchte das Praktikum vorzeitig beenden. Es ist unabsehbar, wie weit die Situation noch eskaliert.“
Auch sie nahm einen Schluck Tee:„Wenn Gott möchte, dass du stirbst, dann stirbst du hier genauso wie bei deinen Eltern zuhause. Übersetze!“
Vor dem Mittagessen kam die kleine Angestellte an meinen Schreibtisch. In ihren Händen hielt sie ein grünes Seidenband. Sie überprüfte, ob es um mein Handgelenk passen würde. Ich versteckte das Band sorgsam in meinem Portemonnaie.

Ich schaute aus dem Fenster neben meinem Schreibtisch, die Sonne hing tief und die belebte Hauptstraße glühte im goldenen Schein. Der Verkehr  war verschwunden. Kein Moped fuhr, die Taxis hupten nicht; nicht einmal Fußgänger waren in der sonst üblichen Menge zu sehen. Ein Polizeiwagen fuhr vorbei, dann noch einer. Aus der Distanz begann man Tumulte zu hören. Menschen skandierten wieder.
Plötzlich fuhr ein Korso an schweren Motorrädern vorbei, fünfzig, hundert Maschinen, alle gepanzert, alle gleicher Bautyp in mattem Tiefschwarz. Auch die Fahrer darauf wirkten durch ihre imposante tiefmattschwarze Panzerung wie ein Heer böser Power Ranger. Sie fuhren in Richtung des Lärms. Ihre geschulterten Gewehre entgingen mir nicht.
Es knallte; was es war, wusste ich nicht. Der Straßenkampf schien in unsere Richtung zu kommen. Ich schaute wieder aus dem Fenster; auch die Verlegerin war aufgestanden und rieb sich ihr Kinn.
Menschen liefen unter dem Fenster durcheinander. Schreie wurden laut. Maschinen heulten auf. Durch die geschlossenen Fensterscheiben hindurch hinterließ die Druckwelle der Detonation eines Molotow Cocktails eine leichte Gänsehaut. Schüsse - ob in die Luft oder in die Menge konnte ich nicht sagen. Durch das Fenster musste ich zuschauen, wie die Milizen mit Schlagstöcken auf Demonstranten einhieben. Die Menge trieb auseinander, nur der Kern war nach wie vor von den Milizen eingekesselt, die Abstand  haltend den Fluchtweg versperrten.
„Öffnet die Türen und lasst die Verletzten rein!“
Die Stahltüren wurden geöffnet und zwanzig, dreißig Demonstranten, Jugendliche, Studenten, Erwachsene strömten ins Lager. Etliche waren rußverschmiert, hatten Prellungen und Abschürfungen. Der Teeboy bemühte sich die Türen gerade wieder zu schließen, als ein Junge wie unter Alkohol auf den Eingang zuwankte. Sofort kamen zwei Mädchen herangeeilt, die ihn stützten. Die Türen wurden hinter ihnen geschlossen. Die Verlegerin schaute mich an:
„Geh sofort nach oben! Es müssen nicht so viele wissen, dass du hier bist.“
Ich gehorchte, ging wieder in den Büroraum und schloss die Tür hinter mir. Stille umschloss mich; das Licht war ausgeschaltet. Die Sonne des späten Nachmittags drang trübe durch die Fenster und tauchte den großen Raum in ein mattes Dämmerlicht. Ich setzte mich wieder ans Notebook, ich hatte keinen Sinn für Übersetzungen. Stattdessen nahm ich mir ein Glas Tee und wanderte ziellos durch die Räume. Im Lagerraum der obersten Etage setzte ich mich auf Kartons und öffnete das Fenster. In der Hosentasche fand ich Zigaretten. Ich rauchte zum Fenster hinaus. Brandgeruch lag in der Luft.
Ich drückte die Zigarette aus und kehrte in den Büroraum zurück. Die Abwesenheit jeglichen Geschehens drückte noch mehr auf mein Gemüt und mich überfiel eine Rastlosigkeit, wie sie wohl Raubkatzen hinter Gitterstäben haben müssen. Obwohl ich oben bleiben sollte, ging ich zum Kühlschrank, nahm eine Flasche Wasser heraus und ergriff einen Packen Papierhandtücher, um mit diesen Alibis wieder hinunter zu gehen.
Viele Augenpaare starrten mich an, als ich die Treppe herunterkam. Die Verlegerin kauerte auf dem Boden und drehte sich zu mir um. Vor ihr lag der verletzte junge Mann am Boden.
„Kannst du Erste Hilfe?“
Mein letzter Erste-Hilfe Kurs war sechs Jahre her, damals bei der Führerscheinprüfung. Ich nickte stumm, ging zu ihr hin und kniete mich neben sie vor den Verwundeten. Seine Augen waren verdreht, die Lider halb gesenkt. Er atmete sehr flach. Blut lief über sein Gesicht. Zwischen seinen schönen langen Locken erkannte ich, dass seine Fontanelle, wo die Haare am Hinterkopf einen Wirbel bildeten, aufgeplatzt war. Sie mussten ihm gezielt dorthin geknüppelt haben.
„Kölsche Popband, BAP: Bewusstsein, Atmung, Puls“, schoss mir der Merksatz durch den Kopf. Atmung und Puls waren vorhanden, gut. Aber er drohte, weg zu dämmern. Ich sprach ihn an, die Umstehenden musterten mich irritiert, als ich begann, ihn in seiner Sprache anzureden, ob er mich hören könnte, wie er heiße, ob es ihm sehr schlecht ginge.
Stabile Seitenlage erschien mir unsinnig. Ich fragte die Verlegerin, ob Sie etwas zum Desinfizieren und sterile Mullbinden hätten. Der Junge flüsterte, dass er Durst hätte. Ich hob vorsichtig seinen blutverklebten Nacken, setzte die Flasche an seine Lippen und er trank, wobei das Meiste sein Kinn hinab lief.
Zwei Männer wies ich an, mir dabei zu helfen, den Jungen gegen eine Säule zu lehnen. Ein Mädchen bat ich, sich weiter mit ihm zu unterhalten.
Die Verlegerin kam wieder und holte aus der Tasche ihres Manteaus eine kleine Nagelschere heraus, mit der sie die Mullverpackung aufschnitt und reichte mir diese mit der geöffneten Flasche Jodtinktur. Ich tränkte die Mullbinde damit und tupfte damit vorsichtig den Dreck aus der Wunde. Der junge Mann stöhnte leise. Die nächste jodgetränkte Mullbinde wurde mir in die Hand gedrückt und ich legte sie vorsichtig auf die Wunde. Ich griff den Packen Papierhandtücher und drückte ihn auf die Mullbinde. Ein Anderer übernahm, ich sagte ihm, dass er mit Druck draufhalten sollte und vor allem nicht aufhören, mit dem Verletzten zu sprechen. Ich sah ihn mir noch mal an, er musste jünger sein als ich, bereit für seinen Willen zu sterben.
Ich richtete mich auf, Kniegelenke und Rücken schmerzten mir. Ich atmete durch. Dann hörte ich die Martinshörner. Krankenwagen fuhren durch die Straßen um die Verletzten aufzunehmen.
„Hört ihr das? Los, holt einen von diesen Rettungswagen heran, er muss dringend ins Krankenhaus!“
Die Verlegerin schüttelte den Kopf.
„Er muss hier bleiben.“
Sie nahm einen der Demonstranten zu Seite und redete leise mit ihm. Er nickte, warf den anderen einen kurzen Blick zu, öffnete vorsichtig die Tür und verschwand.
Ich betrachtete den Verwundeten: Was konnte man noch für ihn tun – außer ihn ins Krankenhaus zu schaffen? Die Wunde wurde gestillt, er wurde bei Bewusstsein gehalten, er hatte zu trinken- Gut!
„Geh wieder nach oben, ich komme auch gleich.“, flüsterte mir die Verlegerin zu. Im Badezimmer wusch ich mir Blut, Dreck und Jod von den Händen. Ich hätte sie vorher desinfizieren oder Handschuhe tragen sollen.
Es war dunkel. Immer noch hörte man draußen die Tumulte unter die sich inzwischen auch die allabendlichen Gott ist groß-Rufe mischten. Ich schloss die Vorhänge und zündete eine Schreibtischlampe an.
Die Verlegerin kam und stellte sich vor mich. Unsere Augen trafen sich. Ich atmete schwer aus und sie lächelte. „Der Junge kennt die Familie des Verletzten. Es muss noch dunkler werden, damit sie kommen können.“
„Warum holt ihr nicht einen der Krankenwagen, es fahren hier doch genug herum?“
Ich bekam keine Antwort.
Stattdessen sprach sie mit dem Teeboy, der gekommen war und uns beiden jeweils ein Glas heißen Tee reichte.
„Du musst zu deinem Hotel noch kommen, schlaf dort ein bisschen oder lies! Er wird dafür sorgen dass du mit dem Taxi dort ankommst“
Ich packte meine Tasche mit dem Notebook zusammen; meine Knie waren weich.
Wir verabschiedeten uns und ich ging mit dem Teeboy auf die Straße. Schaufensterscheiben waren zerstört und die Müllcontainer davor rauchten. Der Gestank von verbranntem Plastik stach in der Nase. Wir standen an der Fahrbahn, zehn Minuten oder auch länger. Autos fuhren wieder, aber kein einziges Taxi.
Irgendwann gelang es ihm ein Moped anzuhalten. Zu dritt saßen wir auf der kleinen Maschine: Vorne der Fahrer, dann ich, meine Tasche mit dem Notebook fest umklammert und hinten auf dem Gepäckträger saß der Teeboy, der sich an meinen Schultern festhielt. Wir fuhren die Straße hinunter, links und rechts sah man vereinzelt kleine Trauben von Milizen auf Demonstranten einprügelnd. Der Fahrer gestikulierte wild, doch ich konnte ihn nicht verstehen.
Wir hielten vor dem Hotel, ich wollte dem Mann Geld geben, doch er lehnte ab. Ich wandte mich dem Teeboy zu: „Das ist zu gefährlich für dich wieder den Weg zurück zu gehen. Wir schauen, ob wir hier für dich ein Zimmer bekommen, im schlimmsten Fall schläfst du bei mir, das kriegen wir auch noch hin.“
Er sah mich verständnislos an. „Meine Kinder haben Angst und meine Frau, ich muss zu ihnen.“ Ich zuckte zusammen: wenn uns was passiert wäre, dann hätte seine Familie keinen Vater mehr, nur weil er mich ins Hotel bringen sollte! Der Eingang war durch das Gitterrollo bereits verbarrikadiert, wir mussten klingeln. Der Portier kam, sah mich durch das Gitter und ließ es hoch. Ich drückte den Teeboy zum Abschied, bedankte mich und sagte ihm wie sehr ich dafür beten würde, dass er gesund zu seiner Familie kommt.
Ich ging die Treppe hoch auf mein Zimmer. Auf meinem Balkon zündete ich mir eine Zigarette an. Noch immer roch die Luft brenzlig. Inzwischen wurden aus den Gott ist groß-Rufen ein ganzer Chor, der trotzig in den Abend brüllte. Über die Brüstung hinweg konnte ich an den gegenüberliegenden Gebäuden beobachten, wie von unten die Fassaden mit Taschenlampen angestrahlt wurden. In einiger Entfernung knallten wieder Schüsse. Einzelne Rotten liefen über die Außengänge in den einzelnen Etagen an Wohnungen vorbei.
Ich trat die Zigarette aus; ich erschauerte. Im Zimmer zog ich die Gardinen zu und stellte die Klimaanlage an. Schwerfällig begann sie zu rumpeln. Ich legte mich aufs Bett. Wie so oft war der Handyempfang unterbrochen. Ich schloss die Augen und versuchte zur ruhe zu kommen.
Ich musste tatsächlich ein bisschen geschlafen haben, denn das schrillende Haustelefon riss mich aus tiefstem Frieden. Es hatte noch nie geklingelt. Der Portier meldete sich und befahl mir ziemlich barsch, die Klimaanlage abzustellen, da mein Nachbar sonst nicht schlafen könne bei dem Lärm. Ich stand auf und schaltete die Klimaanlage ab. Binnen einer Minute war es im Zimmer wieder stickig, sodass ich die Balkontür einen Spalt öffnete.
Im Halbschlaf vermischte sich der Lärm von draußen zu einem Stimmengemurmel, ähnlich dem vor einer Opernaufführung. Immer deutlicher hörte ich Getuschel und Geflüster. Eine einzelne Stimme wurde zwischen anderen deutlich. Sie schien immer dasselbe zu wiederholen, erst sehr undeutlich, dann immer klarer und an mich gerichtet: „Du wolltest hierher. Du bist freiwillig hier. Sieh jetzt selber zu, wie du das durchstehst!“
Ich riss die Augen auf und schaltete die Nachttischlampe an. An der Zimmerdecke suchte ich nach den Stimmen, doch da war nichts. Ich hielt mir die Ohren zu, die Stimmen waren immer noch da.
„Du bildest dir die Stimmen ein, sie sind nur in deinem Kopf“, dachte ich durch die Stimmen hindurch. Ich nestelte in meiner Jeanstasche die Zigaretten hervor und stolperte zum Balkon. Hektisch zündete ich mir eine an. Mein Herz pochte. Einen Zug lang atmete ich tief durch. Die Stimmen verstummten und wurden wieder zum Lärm der Stadt.

„Wrong!“, dröhnte Depeche Mode durch die Kopfhörer, als ich am nächsten Morgen auf die Straße vor das Hotel trat. Außer der zersplitterten Glasscheibe der Bank gegenüber zeugte nichts mehr von den Ausschreitungen des vorigen Abends. Die Morgensonne brannte in meinen Augen.
Im Verlag trank ich heißen Tee und obwohl ich Hunger hatte, verspürte ich keinen Appetit auf die Kekse, die sich auf einer Untertasse vor mir stapelten. Die Verlegerin betrat das Büro und lächelte mir milde zu.
„Wie geht es dem verletzten Jungen, haben sie ihn gestern abgeholt?“, fragte ich.
Der Teeboy warf mir einen scheuen Blick zu, nachdem er einen Tee vor sie abgestellt hatte. Sie nahm zwei Stück Zucker aus der Dose ins Glas und rührte bedächtig um. Dann schaute sie mich an.
„Er sagte zu mir ‚Bei Ihnen bin ich sicher‘. Seine Familie hat ihn gestern spät in der Nacht abgeholt. Ein Onkel von ihm ist Arzt. Ich habe mich mit ihm unterhalten. Keiner der Rettungswagen hat je ein Krankenhaus angefahren.“